Liebe Menschen,
es weihnachtet sehr, irgendwo da oben in Europa, kurz vor dem Polarkreis.
Hier jedenfalls würde Rudolph das Renntier vor Hitze aus dem Pelz
fahren. Wenigstens habe ich die erste Hitzewelle mit 37 Grad überstanden
und die Asche der Buschbrände hier am Berg ist auch aus der Bude
gefegt.
Wie immer wollte ich heute ganz vorne anfangen, etwas zum Abklingen meiner
Heimweh-Depris, meinem Marathon mit Jazz-Ikonen und dem Besuch bei meiner
Kollegin in ihrer Hütte im Squatter-Camp des Townships Langa berichten.
Doch dann kam ER heute ins Museum. Graues schütteres Haar, einprägsame
Brille, deutsche Sprache. Nur ein Augenblick auf der Treppe. Ein Huschen
im Augenwinkel, ein Zucken im Hirn. Wer ist das doch gleich? Den kennst
du. Richtig! Oder ist er es nicht? Also sprech ich die Frau in seiner
Begleitung an. "Sprechen Sie Deutsch?", "Ja, eigentlich
nur Deutsch". "Mein Name ist Lutz. Ich bin der deutsche Praktikant
hier im Museum. Wo kommen Sie denn her?" "Aus Deutschland!"
(Ahaaaaaaaaa, wer hätte das gedacht? ;-) "Woher denn genau?"
"Aus Leipzig."
Nun ist Alles klar. Lutz zieht rüber auf die Überholspur: "Ist
der Herr neben ihnen zufällig unser ehemaliger Bürgermeister?"
"Ja, neben mir stehen sogar zwei Ehrenbürger der Stadt. Das
ist mein Mann, Erich Loest." (Schluck. Noch mehr klar.) Tja, wozu
muss man in Leipzig auf irgendwelche überfüllten Lesungen gehen
und sich den Schlumps in der LVZ durchlesen. Man kann doch einfach nach
Kapstadt ziehen, um mal mit dem ollen Schrifsteller ("Nicolaikirche")
zu schnacken. Und weil der arme Ossi-Poet und seine Gemahlin kaum Englisch
können, haben sie halt noch einen prominenten ossimilierten Wessi
als Dolmetscher: Hinrich Lehmann-Grube, den alten OB der Messestadt. Zufälle
gibt's. Oder Fügung!?! Wenn ich des Hinrichs Englisch richtig interpretierte,
will Erichs Frau wohl etwas radiojournalistisches (hört, hört)
über den District Six machen. Wir sind gespannt. Ich habe ihr erst
mal meine Assistenz angeboten. Vielleicht hat ihr Übersetzer ja beim
nächsten Mal frei...
So, das aber nur vorweg, weil ich das ja handwerklich so gelernt habe:
Das Wichtigste zuerst, weil auf dem Weg aus Afrika ja irgendeine Hyäne
die Leitung durchgenagt haben könnte. Und hier-> oder vielleicht
auch hier -> schon Schluss ist mit der Mail ist.
Man merkt, es geht mir fast wieder zu gut. Die Depris liegen hinter mir
und das Fest der Liebe genau vor der Tür. Ich habe mich in Arbeit
und vor allem in Freizeitstress gestürzt, was mir seeeeeehr gut tut.
Ich habe in nur drei Wochen nahezu alle lebenden Jazz-Legenden dieses
Landes gesehen und gehört und sauge gierig die Töne dieser Stadt
auf. Erst gab sich wohl einer der international bekanntesten Musiker-Söhne
Kapstadts die Ehre: Abdullah Ibrahim spielte mit seinem Trio und vier
anderen Jungs, die einst in den Reihen bei Charles Mingus und Duke Ellington
standen. Wuuuuuha, solche butterweichen Töne, so eine schnoddernd
brüllende Posaune habe ich noch nicht gehört. Das Alles gab
es auch noch in der altehrwürdigen Cityhall. Danach hatte ich das
erste Mal seit meiner Ankunft das Gefühl, es würde nichts ausmachen,
wenn mich jetzt einer erschießt, um mir meine paar Kröten aus
der Tasche zu ziehen. Aber dann kam mir in den Sinn, dass sich auch ein
paar Menschen um mich scheren, die in ihrer Trauer keine Rücksicht
auf meinen Musikgenuss nehmen würden. Und so verwarf ich den Plan
und kam heile nach Hause wie jeden Tag.
So hatte ich auch die Chance, beim Reconciliation (Versöhnungs-)
Festival den Rest der Götter zu erleben. Jonas Gwangwa zickte zwar
erst rum, machte dann aber doch noch sehr gute Musik. Jimmy Dludlu brachte
dauergrinsend die Massen zum Toben und dass es gerade an diesem Tag auf
der Freiluftveranstaltung wie aus Kübeln schüttete, schien keinen
zu kratzen. Langsam wird mir auch klar, was die Leute immer mit Regenbogen-Nation
meinen. Das Land ist so farbenfroh wie ein Regenbogen, nur eben nicht
mit fließenden Übergängen von einem Streifen zum anderen.
Es ist mehr so wie der Bogen vom Greenpeace-Aufkleber: bunt, aber jede
Farbe fein für sich. Beim Versöhnungsfest gab es fast nur Menschen
mit schwarzer Hautfarbe, auf der Bühne und davor. Auf dem Weg in
die Stadt kamen wir dann an der größten Gay-Party Südafrikas
und einer Großdisco vorbei, wo nur Bleichgesichter sich in die Schlangen
reihten. Am Sonntag eröffneten dann die malaysischstämmigen
Kapstädter den Karneval und fast ausschließlich Farbige standen
am Straßenrand oder bliesen, trommelten und tanzten bis Mitternacht.
Ich sehe diese fein säuberliche Trennung immer mehr, wenn ich genauer
hinschaue. Auch das "multikulturelle" Fest, das eigentlich die
alte Mischung der Menschen wieder zusammen bringen sollte, war ein Reinfall.
Schlecht organisiert, weit ab vom Schuss und rein "schwarz"
besetzt, hatten es gerade mal fünf nicht zahlende Gäste in das
Claremont Civic Center mit dem Charme eines LPG-Kulturhauses geschafft.
Dabei hatten die Township-Musiker mit ihren selbst gebauten Marimbas,
die in Gummistiefeln tanzenden Jungs und die urgesteinigen Jazzer eindeutig
mehr Unterstützung verdient. Wie schon ein paar mal wurde ich gleich
als "Mister Lutz from Germany" noch vor den Bands von der Bühne
angekündigt. Rührige Szenen spielten sich ab, als ich Gladman,
dem glücklosen Veranstalter erklären musste, dass ich seinen
Wunsch, gebrauchte Musikinstrumente für die Townships aus Deutschland
zu besorgen, schwer erfüllen könne. Doch seitdem schwirren Tulani
und mir ziemlich viele Flausen im Kopf herum. Unser Besuch bei den Musikern
ist fest geplant. Und wer weiß, was daraus noch wird. Es ist so
erfrischend, diese Mädchen und Jungs zu hören, denen keiner
die Musikschule als bürgerliches Bildungsgut angedreht hat und die
so voll Energie und auch Hoffnung für die Zukunft in die Tasten und
auf die Stiefel haun. Sie brauchen keinen Ejay und hippe Sounds, mit denen
du deine eigenen Tracks mixt und masterst und dann auf CD brennst oder
deinen Freunden direkt als MP3 rüber beamst. Sie brauchen keine Samples
und nicht mal einen Computer, denn sie haben nicht mal eine Stromanschluss
in ihrer Hütte, die ihnen beim nächsten Sturm wegzufliegen droht.
Draußen vor den Toren der heilen, weißen Welt von Kapstadt.
Ja, ja, ich werde gerade etwas bissig. Ich versuche, mich zu zügeln.
Doch ich beginne über den Tellerrand zu schauen um besser sehen zu
können, was sensible Touristenaugen nicht erblicken. Deshalb hab
ich mich auch dreist bei Rawina, der Stickerin aus unserem Museum, eingeladen
und sie am Freitag in Langa besucht. Langa, das weiß hier jeder,
ist ein schwarzer Township. Township an sich heißt vor allem Trostlosigkeit,
das kannte ich ja schon aus dem farbigen Manenberg. Doch Langa hat neben
den Stein gebauten Häusern auch ein illegal entstandenes Hütten-Camp.
Dort hat auch Rawina 1998 ihre Shack in den Sand gesetzt. Bauabfälle
und ein teuer erkauftes Stück Wellblech sind das Heim für sie,
ihren Mann und zwei ihrer Kinder. Kühlschränke hat hier fast
keiner, dabei wird es in den Hütten im Sommer bullig heiß.
Heizungen kann sich erst recht keiner leisten, dabei lässt der stetig
blasende Wind die Menschen im Winter erzittern. Doch die größte
Angst hat Rawina vor dem Feuer. Die Behausungen brennen wie Zunder und
steht eine Hütte in Flammen, sind oft eine Stunde später tausend
Menschen obdachlos. Im Winter, wenn es weniger Feuer gibt, schwemmen die
Fluten oft alle Habseeligkeiten hinweg. Deshalb sollte hier eigentlich
auch keiner bauen.
Um das Leben ziviler zu machen, gibt es inzwischen wenigstens sauberes
Trinkwasser aus zwei Wasserhähnen im Zentrum des Hüttendorfes.
Strom ist auch für viele da. Rawina teilt sich den Anschluss mit
ihrem Nachbarn. Die Toiletten stehen in langen Reihen wassersparend direkt
am Rand eines Umflutkanals. Bei unserem Rundgang stinkt es aus einem langgestreckten
Wasserloch nach Hölle. Hier sammeln sich die Abwässer und ich
bin erstmals froh, dass ich mich gegen Hepatitis hab impfen lassen. Dazwischen
zieht eine Herde Kühe entlang. Sie laben sich kurz an einem der zentral
aufgestellten Müllcontainer und der Hirtenjunge treibt sie weiter
unter den Tag und Nacht surrenden Strommasten hindurch. Macht das nicht
unfruchtbar?! Rawina hat jeden Tag ungefähr 15 Rand (1,30 Euro) pro
Kopf ihrer Familie zur Verfügung. Um die überhaupt durchzubringen,
ist sie vom Ostkap (aus dem ehemaligen Homeland) hier her gekommen - wie
fast alle in Langa. Ich lade sie und die Nachbarn auf eine Flasche gekühlte
Brause und eine Cola ein. Die Kinder schlürfen mit Vergnügen
und ihr Nachbar erzählt mir in schlechtestem Englisch von seinem
Job als Sicherheitsmann. Auch der andere Nachbar verdingt sich so in der
Stadt. Selbst kann er das nicht erklären, weil ich weder Xhosa, noch
sein schlechtes Afrikaans verstehe. Auch der Mann einer anderen Kollegin
musste mit dieser Arbeit Vorlieb nehmen. Eines Tages kam er nicht wieder
nach Hause. Drei Tage brauchte seine Frau, bis sie herausfand, dass er
erschossen wurde. Schlagartig wird mir klar, wie allgegenwärtig die
Apartheid noch ist. Keine Bildung, keine qualifizierte Arbeit, keine Arbeit,
keine Bildung...
Ich mache mich mit einem üblen Gefühl auf den Weg zurück
in das weiße Kapstadt. Hab Kekse gebacken für die Mitarbeiter-Party.
Haajirah war dafür einkaufen, für fast 4000 Rand. Ein dreiviertel
Jahr Überleben für Rawina oder eines ihrer Kinder. Von mir kriegen
sie jedenfalls Makronen. Und vor der Rückreise werde ich mir noch
was überlegen.
Wem noch nicht der Stollen im Hals stecken geblieben ist, der kann sich
auch die Bilder auf der Homepage anschauen. Lachende Menschen sieht man
da. Spielende Kinder, strahlende Gesichter. Raum für Liebe ist in
der kleinsten Hütte. Und Jesus' Stall steht für mich dieses
Jahr draußen am Umflutkanal.
Frohes Fest wünscht Lutz